Spaßnahme Tag 5

Der fünfte Tag bringt völlige Routine, außer, dass man auf Wunsch Fotos machen lassen kann. Natürlich der Maßnahme entsprechend total unprofessionell, noch nicht einmal eine Spiegelreflex gibt es dazu, da lach ich doch. Vor eleganter Raufasertapete können bräsige Gesichter aufgenommen werden. Im tristen Licht der Maßnahmenräumlichkeiten wird die Frustration durch die Linse maximiert und legt sich unter die Augenringe der Hartzer Übernächtigung.

Auf der Rückfahrt am gestrigen Tag habe ich mit dem einzigen anderen MA-Studenten einen akademischen Geheimbund geschlossen. Irgendwie findet man sich doch immer, selbst wenn man nicht will, das ist wie im Ausland, wo man schlussendlich immer die 10 Deutschen findet, die dort herum schwirren, auch wenn das alles ganz schreckliche Menschen sind, mit denen man niemals etwas zu tun haben wollen würde, aber obskure Gemeinsamkeiten, die nichts mit Chemie oder Persönlichkeit zu tun haben, verbinden in der Fremde, daher ist die Frage, woher man kommt, auch so integral in ätzenden Kleingesprächen. Gemeinsam lamentierten wir über die schweren Schicksale, die man als MA-Arbeit schreibender, gepeinigter Student durchstehen muss, wenn man zusätzlich auch noch ein paar Knödel dazu verdienen muss. Was haben wir gelitten in den Monaten der Entbehrung, eine seelische, als auch intellektuelle Achterbahnfahrt.
Von jetzt an wird es eine ungeschriebene Übereinkunft zwischen uns geben, was immer auch passiert, wir werden uns auf jeden Fall für etwas Besseres halten.

Heute geht die Zeit wieder einmal erschreckend langsam voran. Ich weiß gar nicht, wie das erst nächste Woche werden wird. Ja, nicht nur Superman gelingt das Unmögliche; in den einengenden Räumen des Siemens-Gebäudes gestarrt die Welt zu einem Stillleben aus gescheiterten Existenzen und widersetzt sich dreist dem Grundwunsch aller, das so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Stattdessen scheint der verzweifelte Drang, aus dem kalkigen Gebäude heraus zu kommen, entgegengesetzt zu wirken und die physischen Gesetze außer Kraft zu setzen. Wir reisen zurück in die Zeit, ohne De Lorean fahren wir Doc und McFly nach, aber unsere wilden Abenteuer bestehen darin, Heisters schicksalhaftes Leben als untalentierter Gruppenleiter im Zeitraffer zu verfolgen und das noch nicht einmal populär gewordene Internet nach noch nicht einmal eingestellten Jobs zu durchsuchen. Während Minipli und Lederwesten regieren, sitzen wir im ungebauten Siemensgebäude und sehnen unseren ungeborenen Jugendträumen nach.
Meine Fantasien werden dadurch unterbrochen, dass ich mein Fahrgeld abholen kann. 16,50 (O-Ton Heister „So viel!“, „Tja, Wochenkarten sind teuer“). Als Herr Heister noch jung war, konnte man damit nicht nur drei – zugegeben anspruchslose – Frauen ausführen, sondern auch noch eine Runde Korn in der Stammkneipe ausgeben und hatte dann noch etwas übrig für das neuste Schunkelalbum der aktuellen, weil zeitlos-alten Schlagerstars. Die Frage, ob ich auch ein Foto machen möchte, verneine ich, woraufhin Heister nur sarkastisch meint „Nein, sie ist wunschlos glücklich“. Die Aversion gegen meine ‚schnippische‘ Mickey Mouse Art kann man aus der Luft heraus schneiden und an die Wand nageln.
Eruptionsartig kommt Herbert immer mal wieder mit Kommentarbröckchen an die Oberfläche seiner schwulstigen mit karierter Baumwolle bedeckten Gebirgslandschaft. Mittlerweile hört niemand mehr hin, wie wabernder grüne Nebel hängt die Abneigung der anderen um seinen roten Kopf und kreist im Orbit.

Geil, ein schlecht gemachtes Video bringt die Stimmung wieder zum Kochen.
„Überlege dir, ob es dir bei dem Arbeitsplatz gefallen würde.“ „Lasse dich nicht durch Absagen ermutigen.“ „Jedes Erfolgserlebnis ist eine Chance, die du dir selbst ermöglicht hast.“
Die Protagonistin der spannenden Story könnte ebenso gut die Protagonistin in einem Horrorfilm sein, sie spielt auch genauso schlecht. Leider kann sie das Wort „Grafikdesign“ nicht ganz so gut aussprechen, naja, das lernt sie ja vielleicht in der Ausbildung dazu.
Mein Favorit ist eine eher zusammenhanglose Verdeutlichung, dass der Lebenslauf nur den Rahmen einer Bewerbung bildet. Ein kitschiger Oma-Wohnzimmer-Bilderrahmen wird dann auf einen Tisch gefeuert, worin mit einem „boing“-Geräusch der besten Slapstick-Kategorie das Gesicht der Protagonistin auftaucht. Herrlich, da waren echte Visionäre am Werk und haben versucht, das Erlebnis Bewerbung so bunt und aufregend wie möglich zu verpacken. Schade, dass das Gesicht unserer Heldin dabei weiterhin so aussieht, als wäre ihre Mitwirkung im Video Teil einer Zwangsmaßnahme.
Die Ausgelassenheit, die besonders die letzten Reihen an diesem Freitag in Partylaune bringt, umfasst auch Herrn Heister, der unvermittels seine Musiksammlung auspackt und alle Klischees bestätigt, die ich in meinem vorurteilsbelasteten Gehirnwänden zusammenfabuliert habe. Partyhits ziehen wie Kampfbomber durch den Raum. Immer wieder muss man sich als Musiknerd fragen, warum Menschen mit einer extensiven Partyhits-Sammlung niemals vor Scham zerlaufen, wenn sie ihre Lieblingssongs durch die Gegend brettern, wo man selbst schon verlegen zu nuscheln anfängt, sobald sich ein ABBA Song in der Playlist verirrt.
Seine Vietnam-Fotos können wir leider nicht sehen, weil er schon wieder nicht mit den Computerprogrammen klar kommt, aber vielleicht auch ganz gut, spontan denk ich an Sextourist Heister, der mit Euroscheinen um sich schmeißt und jungen Mädchen oder Jungs lüstern hinter her blickt.
Wie vorhergesagt, kommt die erste große Gefühlsbekundung pünktlich zum Wochenende.
„Ich glaube, so viel wie diese Woche habe ich die letzten 9 Monate nicht gelacht.“
„Wieso, bist du schwanger gewesen?“
Der Mitstudent ist also weich geworden.
Obwohl meine Meinung über Heister von den Meisten geteilt wird, ist die Grundstimmung ihm gegenüber erstaunlich friedfertig. Dass seine Kollegen nachvollziehbar weniger Respekt vor ihm haben und immer mal wieder mit den Augen rollen, wenn wir mal wieder vor dem Raum stehen und warten, oder er mit den Computern nicht klar kommt, hat anscheinend dafür gesorgt, dass die anderen ein 9/11-Story mäßiges Kollegialsyndrom entwickelt haben, bei dem ein definierter Gegner (die anderen Seminarleiter) von der Inkompetenz der eigenen Gruppenindividuen ablenkt. Mein zuvor witzig gemeinter Vorschlag, mit der parallelen Seminargruppe einen Westside Story Messerkampf aus zu tanzen, scheint sich tatsächlich in die Realität zu zwirbeln. Jetzt muss ich vorsichtig sein, denn auch wenn ich die kreative Freiheit genieße, die mir ein motivationsloser Gruppenleiter ermöglicht, bin ich vom Grundprinzip her höchst erbost, meine wertvolle Zeit im Industriegebiet Rostocks zu verschwenden,  ohne zumindest den Ansatz von Anstrengung Heisterseits zu erkennen. Jegliche Äußerung meiner auf Dauer geplanten Rezensions-Attacke zum Ende des Seminars hin könnte mich schneller als Lichtgeschwindigkeit  in die Außenseiterposition verfrachten, wo Herbert bereits lächelnd mit Schockoladenanekdoten und krustenden Fußnägeln auf mich wartet.

Spaßnahme Tag 4

Mein Ausflug in die berlinerische Freiheit wird abrupt von der tristen Realität eingeholt, heute geht es wieder flockig weiter. Mittlerweile ein anerkanntes Mitglied der letzten Reihen werde ich euphorisch begrüßt, jede individuelle Erfolgsgeschichte ist eine Erfolgsgeschichte für die Gruppe.

Die Grenzen austestend fange ich jetzt schon an, Musik zu hören, meine Blogs zu schreiben und eine Homepage zur Neuinterpretation des Christentums auf die Beine zu stellen. Mit Supershirt auf den Ohren bratze ich mich durch das Internet, eigentlich ist es fast so wie zuhause, nur ohne Katzen. Ach was, die bring ich morgen einfach mit, stört doch eh niemanden. Wahrscheinlich ist Heister auch deshalb erstaunlicherweise beliebt, denn bis auf das Getränkeverbot im Raum ist diese Art der Maßnahme eher mit einem Besuch im Internetcafe zu vergleichen. Maßnahme statt Urlaub, wer eine Hängematte und einen Pina Colada Mix mitbringt, der kann sich das Cocobana-Feeling in den tristen Seminarraum holen.

Herbert hat sich wieder ins Aus katapultiert, meine Vorausahnungen am ersten Tag waren doch richtig. Jetzt besetzt er schon den Drucker seit ner halben Stunde und dann will er noch seine Geldkarte kopieren – aber nur in Farbe. Das Problem ist, dass Herbert nach seinem doch recht gut gelaunten ersten Tag stark abgebaut hat und nun vorwiegend durch Rumpöbelei auffällt. Dick sein und unfreundlich zieht immer Unmut nach sich, da muss man schon gertenschlank und wunderschön sein, um sich solche Spirenzchen leisten zu können.

Mittlerweile hat die Aktivität in der Maßnahme einen Tiefpunkt erreicht. Es ist mir ein Rätsel, was in der nächsten Woche gemacht werden soll, auf dem Fantasiestundenplan steht bereits alles Notwendige, es sei denn, wir müssen noch auf den spontanen Fall vorbereitet werden, dass Terroristen während des Bewerbungsgespräches in das Büro einfallen und uns als Geiseln nehmen. Wie man da gut vor dem Chef aussieht, indem man sich heldenmütig vor ihn wirft, wenn die Schüsse abgefeuert werden, kann da ja im passenden Rollenspiel gelernt werden, natürlich nur mit echten Kugeln, nur die Harten komm‘ in Garten.
Dazu kann der Heister dann aber keine Anekdoten erzählen, in der DDR gab es ja – neben Bananen und Levis – auch keine Terroristen. Nur Herrn Heister. Der Terrorist der gut geplanten Bewerbungsseminare.

Das Blöde ist natürlich auch, dass – wenn nichts passiert – ich nur ein dünnes Heftchen und kein Buch zusammen bekomme, das kann es doch so nicht sein, das ist doch hier mein literarischer Durchbruch, der mich sowohl auf die Spiegel-Bestseller-Listen als auch die Bild-Titelseite bringt. Vielleicht denke ich mir einfach etwas aus, lasse tatsächlich Terroristen in den Zwergponypool einlaufen und schreibe eine packende Schicksalsstory. Ach, scheiß auf Terroristen, wenn man nach den Verkaufszahlen geht, sollten Vampire, Zombies oder andere Monster viel mehr einbringen.

Wenn dies ein Stephen King Roman wäre, würden die Wochen mit viel zu intimen Geständnissen enden, bei King eine Spezialität. Irgendwann wären wir alle ein eingeschworener Haufen, aber einer wäre im Laufe der Belagerung wahnsinnig geworden und eine (in King-Romanen immer weiblich) würde auf den totalen Jesus-Trip kommen, um schlussendlich von uns allen in Übereinstimmung niedergeschlagen oder sogar getötet zu werden. Niemand würde eine Träne vergießen und wir alle würden wissen, dass es richtig so war. Ich frage mich, wer von uns dafür in Frage kommen würde. Vollgepackt mit Mecklenburgern sieht es diesbezüglich schlecht aus, mit Religion haben wir es hier im Norden nicht so und mit überbordenden emotionalen Religionsbekenntnissen noch weniger. Sicher ist jedoch, dass ich aufgrund meiner Geekigkeit leider nicht die Rolle der Protagonistin oder weiblichen Hauptrolle  übernehmen kann, die sind nämlich attraktiver, aber auch immer so langweilig, dass man ihre ausgewaschenen Persönlichkeiten nur unter Extremsituationen wie Alien-Entführungen und Monster-Belagerungen ertragen kann. Ich hingegen würde die allseits beliebte Rolle der witzigen besten Freundin spielen, die in der zweiten Hälfte sterben muss, allerdings dann auch schon vom Publikum beweint wird (ganz im Gegensatz zur noch zu besetzenden Bibel-Fanatikerin). Im eigenen Blut liegend würde ich mit meinem letzten Atemzug einen Witz von meinen Lippen ringen und halb weinend, halb lachend würden meine Kollegen um mich herum stehen, während meine Eingeweide langsam aus der tiefen Bauchwunde herausgleiten und sich auf dem Boden verteilen würden. Ich würde sogar jemanden hinterlassen, der sich in den letzten drei Tagen unsterblich in mich verliebt hat, aber – es soll nicht sein, wenn die Gedärme durch den Raum gleiten, dann hilft auch die Liebe nicht mehr.

Als es hinter uns durch die Fenster plötzlich tierisch knallt, scheint sich mein Wunsch nach Bestseller-Verdächtiger Abwechslung erfüllt zu haben. Aber außer ein paar Rauchwolken von der anliegenden Fabrik, lässt sich nichts erkennen. Als wir nach einer halben Stunde trotz offenem Fenster immer noch quicklebendig im Raum sitzen, muss ich schweren Herzens die ätzenden Dämpfe ausklammern, aber vielleicht zeigen sich in ein paar Tagen interessante Mutationen, Daumen drücken und abwarten.

Spaßnahme – Tag 2

Zweiter Tag und endlich geht es in den PC-Pool. Die PCs sind Laptops, aber gut, solange es keine Kühe sind…Kühe als PCs zu benutzen ist selbstredend aus diversen Gründen unpraktisch. Zum einen ist die schwarz-weiße Bemusterung nicht nur eine demotivierende Metapher für die heutige Gesellschaft, sondern flackert ungesund in den Augen, so dass man bereits nach einer Stunde Kopfschmerzen bekommt. Zum anderen ist die Internetverbindung über Kühe nicht ideal, nur weil man mehrere Mägen hat, heißt das noch lange nicht, dass das W-Lan  funktioniert. Und sowieso, Kühe nehmen viel zu viel Platz weg, wenn schon, dann doch lieber ein Zwergpony, das brennt auch nicht so in den Augen.


Zu Beginn des Kurses soll es wieder etwas Theorie geben, na hoffentlich nicht wieder ein OZ-Spezial, noch einmal ertrage ich das nicht. Stattdessen gibt es eierige Kommunikationstheorie, ein albernes Rollenspiel und dann noch etwas zum „Resumö“. Aber hier im Zwergpony-Pool ist das sowieso egal, denn die Alten sitzen vorne und braten Einzelschicksale, während wir hier hinten eine eingeschworene Party-Truppe bilden.
Herbert ist heute ruhiger und etwas vergrätzt, was einerseits an seiner Diabetes liegen kann, andererseits an den Tücken der Technik. Unsereins fühlt sich ja mit Gadgets und Electrospielzeugen verbunden, unsere Venen pochen im Gleichschritt unserer Twitter-Einträge. Aber Herbert kämpft mit der Technik „Bei mir zuhause passiert sowas nie“ ist der Standard-Spruch für Leute, die zuhause asbachuralte Geräte haben, die noch mit Hamstern angetrieben werden und Disketten so groß wie Plakatwände benötigen, um irgendeine obskure Dos-Anwendung zum Laufen zu bringen.

Während Heister den Interesse-vortäuschenden Altsemestern über sogenannte Assessment-Center ein paar Takte erzählt, haben wir uns ein parallel-Seminar aufgebaut, in dem ausgelassene Hierarchie herrscht. Kurzer Einwurf von Heister: „Märchen muss man auch erzählen können, in solchen Assessment-Tests, beispielsweise als Kindergärtnerin.“ Ein guter alter Heister. Auch schön – zum Ende des Vortrages starrt uns die ernüchternde Aussage entgegen, dass Assessment-Tests eigentlich keine Aussagekraft haben. Ach so, naja, war ja trotzdem nett.

Bei der theoretischen Abhandlung über verhandlungssicheres Aussehen kommt es zu moderaten Auseinandersetzungen, da Heister über die zu vermeidenden russischen Parfüms redet, als auch die aufgebrezelten dazugehörenden Damen. DAS passt dem Herbert gar nicht.

„Also meine Frau nicht.“

„Ich meine auch nicht ihre Frau“

Jaja, denn dem Herbert seine Frau ist Russin. Böses Fettnäpfchen. Heister, Heister, die Stimmung schwankt.

Dennoch fühlt er sich sichtlich wohl an der Spitze, die dahingenuschelten Theorie-Ansätze hat er hinter sich gelassen, nun kann er fröhlich watschelnd machen was er will, im Grunde rennt er immer nur rein und raus, das kenn ich, das macht man, um geschäftig und wichtig zu erscheinen.

Dass ich gar keine Arbeit suche, hab ich dann in der letzten Zigarettenpause klar gestellt, mein Freischein ist damit ausgestellt, ein paar schon längst abgeschickte Bewerbungen soll ich dennoch in meine Liste schreiben, sonst kriegen die Anleiter Ärger. Na, das überleg ich mir noch.

Natürlich hat der Freischein auch seine Konsequenzen, plötzlich bin ich  die Fachkraft für alles, natürlich, ich such ja nicht mehr, ich gehöre zur Erfolgsschicht der einigermaßen gut bezahlten Praktikanten, jeder Blickkontakt wird mit einer Meinungsaufforderung bestraft.

„Eine innere Uhr muss man auch haben, oder wie sehen Sie das?“

„Äh, ja, ich weiß jetzt nicht so genau, was sie meinen, mit innerer Uhr.“

„Na, eine innere Ruhe bewahren.“

„Ach so, ja.“

Problem dabei ist, dass ich total unaufmerksam bin, die holperig vorgelesenen Vorlagen von Heister, der sie anscheinend heute auch zum ersten Mal liest, laden zum Ferndenken ein.

Kurz vor der Mittagspause werde ich dann schon wieder schräg angepöbelt. „Na nu lächel doch mal, du guckst mich immer so böse an.“ Verdammter Lächelnazi, das kann doch nicht sein, dass man hier aufgrund schlaffer Mundwinkel zur Guten Laune genötigt wird, wo soll das noch Enden, Einhaken und Schunkeln, oder schlimmer, eine Polonaise.

In den letzten zwei Stunden ist für gewöhnlich die Luft raus, neben ein paar (noch) harmlosen Keilereien zwischen Heister und, nennen wir sie mal Katrin, sind alle ruhiger und tickern leise vor sich hin. Auch wenn es sicherlich stressig wird und höchstwahrscheinlich wieder schief geht, werde ich morgen in Berlin unterwegs sein, meinen zukünftigen Praktikumsplatz besuchen und nebenbei auch noch eine, hoffentlich zwei Wohnungen begutachten. Ich bin schon ein Fuchs. Wenn man allen anderen glauben mag, dann ist es unmöglich eine Wohnung in Berlin zu finden. Auch wenn jeder nach Berlin zieht, niemand wohnt dort, alle Leute, die eine Wohnung dort haben, haben an Öllampen gerubbelt oder Kobolde gefangen und ergatterten sich damit das Unmögliche. Ansonsten sind Berlins Straßen voll von Wohnungssuchenden, die tagein, tagaus nette Apartments besichtigen und abends wehmütig in Erdgeschoss-Fenster luschern, um zu sehen, ob in der dazugehörigen Wohnung eventuell gerade jemand gestorben ist, oder sich ein Pärchen böse streitet. Deshalb sind die Straßen in Berlin so voll, weil niemand ein zuhause hat und jeder nach der Arbeit nur verloren umherstreift, auf der Suche nach provisionsfreien Angeboten. Ein Trauerspiel.

Nach und nach kommen die üblen Machenschaften des Herrn Heister an den Tag. Oh ja, die 88 OZ-Seiten waren nur das Vorspiel zum eigentlichen Terror, denn fast schon verzweifelt versucht er uns Angebote und Stellen auf zu drücken, die niemand haben will, oder kann. In der Welt des Herrn Heister existieren keine Qualifikationsschranken, keine Ausbildung? Egal, da steht doch auch „kontaktfreudig“, das muss reichen. Natürlich nicht für mich, ich guck ja immer so böse.

Die Frustration schlägt übrigens Wellen, in den Zigarettenpausen wird nicht einmal mehr geflüstert, wenn man sich über die Leitung beschwert. Ich vornean, als gelernte Musikjournalistin kenne ich die hohe Kunst der handfesten Miesmacherei, da kenn ich auch nichts, wenn ich schon zwei Wochen lang dazu verdonnert werde, mir die OZ vorlesen zu lassen, um dann noch penetrant zu Mundwinkelverrenkungen aufgefordert zu werden, dann mach ich jeden schlecht, der sich mir in den Weg stellt. Das Seminar endet mit der Fantasieliste, für die uns Heister einen fiktiven Stundenplan diktiert, den wir anscheinend an diesem Tag durchgenommen haben. Was da alles zusammenkommt, man könnte fast meinen, dass die fiktiven Kursteilnehmer dieses fiktiven Stundenplans wirklich einiges gelernt haben….

 

 

Spaßnahme – Tagebuch einer Maßnahme/ Teil 1: Montag

Schon eine Stunde in das Seminar rein arten die Gespräche in große Betroffenheitstalks aus, wenn das jetzt schon so gefühlvoll losgeht, wie soll das erst in einer Woche werden? Tränenreiche Geständnisse, Gruppenumarmung und die Selbstfindung im Sitzkreis, mein mecklenburgisch verschlossener Charme kommt mit soviel Seelenpolka nicht klar, da krieg ich Ausschlag von und geh ins Zyniker-Tourette.
Daher hat mich der Gruppenleiter – Herr Heister – auch schon jetzt auf dem Kieker. Dummerweise hab ich in einem Anfall von Leichtsinn erwähnt, dass ich doch tatsächlich studiert habe. Als Fachkraft für Studentenkram und so bin ich nun im Gespräch, wann immer irgend etwas studentisch-kramiges in die Runde geworfen wird.
“Macht man denn auch Assessment Tests im Studium?”
“Nee.”
“Wieviel kostet denn so ein Studium?”
“Ja nicht so viel, in Rostock ist ja noch ohne Studienkosten.”
“Und wieviel würde es so kosten?”
“Keine Ahnung, wie gesagt, in Rostock ist ja noch ohne…”
Ein Springbrunnen an studentisch-fachwissenschaftlicher Kompetenz kommt aus mir heraus getröpfelt, gratis dazu gibt es vergnatzte Müdigkeit und bleierne Mundwinkel. Daraufhin werde ich dann auch mehrmals aufgefordert, doch endlich mal zu lächeln. Woher so was nur immer kommt, Lächler sind doch allgemein für ihre Naivität bekannt, oder noch schlimmer, werden für nicht ganz dicht gehalten. Klar, unter Freunden darf gerne mal ausgiebig gelächelt werden, manchmal sogar minutenlang, aber unter Fremden verzerren sich die Mundwinkel zu grotesken, klaffenden Schlündern, die den Wahnsinn in sich tragen. Niemand lächelt unter Fremden, außer er ist betrunken, bescheuert oder ein elendiger Hippie.

Die Gruppe ist bunt gemischt, schon jetzt macht sich – ich nenne ihn mal Herbert – Herbert ganz ausgezeichnet als Sündenbock für etwaig auftretende Aggressionen, als nerviger Klugscheißer, der immer zuviel erzählt und zu oft nachfragt. Eigentlich eine Spezialität meinerseits, aber ich will meine Rolle als Rebell without a cause nicht aufgeben und schmoll daher weiter in der Ecke, während ich versuche, Herberts gigantischen Bauch auf Papier zu bringen. Neben seinem Bauch, der so aussieht, als hätte sich Herbert ein großes Daunenkissen unter das Hemd gestopft und das sei dann etwas sehr weit hinuntergerutscht, hat Herbert auch noch einen winzigen Kopf, der gar nicht so dick aussieht, wie der Rest von ihm. Vielleicht ist Herbert auch ein Schauspieler, der sich in einen Fett-Anzug einer 80-jährigen Frau gezwängt hat. Aber nein, die Zehennägel verraten ihn. Denn obwohl draußen herbstlich kühle Temperaturen herrschen, trägt Herbert Sandalen und darin gelb-knusprige Zehennägel, die aussehen wie frittierter Schweinespeck auf Füßen verteilt.

Trotz gilbender Fußbenagelung und enervierender Nachfragerei schafft es Herbert dennoch mit seinem Dicken-Charme die Menge nach der Mittagspause auf seine Seite zu ziehen. Meine Angst, dadurch schnell in die Rolle des Lynchmob-würdigen Außenseiters zu rutschen – alle anderen haben sich mittlerweile schon dick angefreundet – darf jedoch unbestätigt abziehen, denn der Gruppenleiter Heister entpuppt sich als schamloser Selbstinzenierer. Anstelle hilfreicher Bewerbungstipps gibt es einen ausführlich erläuterten Lebenslauf von ihm, in dem wir die Leidensgeschichte des Herrn H mit anhören müssen. Den Spott, der unweigerlich aus allen Seiten und Ecken geschossen kommt, ignoriert Heister wie ein Profi.
Und dann – unfassbar – scrollt sich Herr Heister durch 88 Seiten OZ-Spezial über den Rostocker Arbeitsmarkt. Scheinbar wahllos liest er Firmennamen vor, begleitet von “Na das wäre doch auch etwas.” oder “Das könnte man natürlich auch machen” oder “Bei denen könnte man auch mal anfragen, fragen kostet ja nichts, sach ich mal so.”.
Die Spitze der Unglaubwürdigkeit schraubt sich immer weiter nach oben, das ganze Spektakel entwickelt sich vor unseren staunenden Augen zu einem dieser Gags, in denen der Protagonist aus lauter Not in einer scheinbar logisch zusammenhängenden Aufzählung einfach nur Dinge nennt, die in sein Blickfeld geraten.
Immer wieder gleitet meine Aufmerksamkeit von der spiegelglatten Bahn, die Heisters Wahnwitz gegossen hat. Immer wenn ich mal wieder auftauche, schlagen mir Themen entgegen, die wie Dittsche-Gebrabbel um meine Ohren flattern: “Ja, das war ja damals noch ein Limonadenstand, da gabs dann Limonade”,  “Bei Steuererklärungen sieht ja auch keiner mehr durch, nichts mit aufn Bierdeckel schreiben“, niemand weiß, woher er die Themen nimmt, die Anzeigen der OZ ziehen üble Assoziationsketten bei Herrn Heister nach sich, der in die Untiefen seines ewigen Daseins greift, um eine sinnlose Anekdote nach der anderen aus dem Ärmel zu ziehen.
Dann eine Seite mit Werbung für Caravane “Ja, wenn man es sich leisten kann, dann sollte man sich schon einen Caravan kaufen.”
Das Stanford-Experiment ist nichts gegen unser kleines Hartzer-Biotop.
Frage: Wie lange lassen sich die Testpersonen von einem Wahnsinnigen aus einer Zeitung vorlesen?
Antwort: Bis zum bitteren Ende!
Knallhart zieht Heister durch, jeder andere hätte schon schamvoll Muffensausen gekriegt und spätestens ab Seite 40 abgebrochen, darauf hinweisend, dass wohl jeder in der Runde verstanden haben möge, worum es hierbei ging (Zeitung lesen?!).
Aber nicht Herr Heister, da können Terroristen durch die Fensterscheiben geschossen kommen, um uns nacheinander die Köppe zu zerballern, Herr Heister zieht durch bis zum bitteren Ende, bis zum bitteren, sinnlosen, rotgeränderten Ende.