Jan Frisch ‚Standbein I Spielbein‘ – erzähl mal was vom Kleinen im Großen

Da geht es ziemlich hektisch los, irgendwo ganz wirr und außer Atem (und ein wenig übermüdet) im Club, zu viele Menschen, zu viele Fragen, ganz schön viel los hier, wer war das? Naja, egal, der wird schon noch mal wiederkommen, wenn es wirklich wichtig war und sowieso, „draußen ist es hell“, da müsste man doch schon längst im Bett gewesen sein, aber es passiert ja noch so viel, vor allem auf diesem Album von Jan Frisch (im Februar 2016 dann auch im Plattenladen zu erstehen), jetzt auch mit Band und jetzt wie früher der Grund, warum man das Wort „Liedermacher“ auch heute noch ruhig in den Mund nehmen darf, ganz ohne kratzige Wollpullis und Kerzenständern aus alten Weinflaschen, denn hier wird gemacht und gebaut, zusammengesteckt, gewürfelt und aufeinander gestapelt. Das Ergebnis ist weder sperrig noch aufgeräumt, sondern irgendwo dazwischen eine Bude (ein Häuschen, eine Laube, eine Datsche), die ganz in ihrer Umgebung eintaucht, dann aus dem Rahmen fällt und dann etwas wird, ohne das die Umgebung weniger wäre, sehr viel weniger.

Da denkt man an eine alte (umstrittene) DDR-Plattenbauserie namens „Einzug ins Paradies“. Dort mutete der Soundtrack von Peter Gotthardt beinahe bedrohlich episch an und gab den teils banalen, teils rührenden persönlichen Geschichten der Bewohner einen Anstrich der historischen Bedeutsamkeit, ganz so als würde man nicht einer Handvoll mittelständischer Familien beim Leben zusehen, sondern einer ganzen Gesellschaft beim Auf und Ab der wellenschlagenden Geschichte.

Ähnlich eindrucksvoll verpackt Frisch seine Themen aus dem Alltag, diese Gesprächsfetzen und Zitate, diese Momentaufnahmen im staubigen Rahmen, diese stückhaften Ideen, die morgens im Kopf schwirren und nicht zur Ruh kommen. In fast schon Krautrock/Prog-Manier werden Songs, etwa wie „Standbein Spielbein“, ausgespielt in ein kleines instrumentales Chaos (das, psst, gar keines ist), ganz so als wäre das kleine Persönliche vielleicht doch nicht so unwichtig, auch im Kontext der globalisierten Nachrichten am Abend.

Das Alles geht dann auch nur so groß und tragend, weil Jan plötzlich nicht mehr alleine auf der Bühne steht und im Studio stand, sondern jetzt auch mit Band zu haben ist. Das wären Julian Pajzs an der Gitarre bzw. an der anderen Gitarre, Hannes Hüfken am Bass und Oliver Steidle am Schlagzeug. Die dürfen dann so musizieren, wie vielleicht schon die Väter früher in den späten 70ern, frühen 80ern, so ganz konzentriert darauf, dass die Technik ja nicht die Gefühle übermannt.

Da wird das Zweisame viel größer als man es jemals annehmen konnte und rührt sehr. „Unter 100000 Menschen sind wir immer noch zu zweit“, aber das ist es doch, dieses Kleine im Großen.

Man soll ja nicht aus dem Kleinen (ein Teil des Ganzen) auf das Große (das Ganze) schließen, das ginge nur umgekehrt, heißt es in der formalen Logik des geneigten Philosophie-Lernenden und -Lehrenden. Aber es gibt doch Dinge, die lassen sich nur von Nahem sehen und das Ganze, das verschwimmt, wenn man sich ihm nähern will. Das Du, das Wir und das Ich jedoch, das wird ganz klar, ganz so klar wie Frischs rau-wehmütige Stimme und seine klaren Gitarrenspuren in dem musikalischen Meer, das er um seine Texte herum komponiert hat (wer kann schon das Meer um ein paar Worte herumlegen?). Und dass diese große Album mit den kleinen Geschichten in wogender Ummantelung dann auch so ausklingt, als beobachte man ein Boot, das wellentreibend langsam aus dem Blickfeld verschwindet, das passt wie eigentlich alles, was Jan Frisch so anpackt, zu dem Großen und dem Kleinen gleichermaßen.

 

Sing, my brightest of all diamonds: Interview mit Shara Worden

Zum ersten Mal gehört habe ich Shara Worden als ambivalent gewaltvolle Waldkönigin in der ambitionierten Rockoper „The Hazards of Love“ der The Decemberists, in der wohl beeindruckendsten Gesangsperformance aller Beteiligten, die für mich – wie wahrscheinlich für viele andere auch – wie von Zauberhand die Google-Suche initiierte, die ergab, dass diese Stimme nicht von ebenher sondern einer klassischen Opern-Ausbildung kam. Als Tochter zweier äußerst musikbegabter Eltern – der Vater war Chorleiter und Akkordeonspieler, die Mutter spielte Orgel – lernte Shara schon früh von ihrem jazzbegeisterten Onkel Donald Ryan, Klavier zu spielen, später studierte sie in Texas Gesang und würde in wiederum späteren Jahren immer wieder zu ihrer Gesangsmentorin Josephine Mongiardo nach New York kehren, um ihre Stimme weiter zu schulen.

Obwohl Shara bereits seit 2001 solo als auch in Bands Musik veröffentlichte, verließ sie erst 2006 ihren Cocoon und steckte sich den Namen My Brightest Diamond an ihren Ringfinger, um mit dem eindrucksvollen Album „Bring me the Workhorse“ zu debütieren und somit eine gewaltvoll eigene Stimme im unsäglich weiten Meer der Singer/Songwriter-Zunft wie einen Orkan zu etablieren.

My Brightest Diamond – Sharas Erinnerung an die Liebe zu einer Person, die so besonders war, dass sie kaum haltbar war und die wohl im aktuellen Album auch in dem Song „Pressure“ ihre strahlenden Fußspuren hinterließ – gehört in der Welt des Pop zu den Künstlern, die nicht nur mit Themen und Melodien liebäugeln – das Übliche eben – sondern auch in verschiedenen Genres stöbern, sich Impulse aus elektronischer, Punk- und folkloristischer Musik holen und diese oftmals mosaikartig oder auch impressionistisch ineinander fließen lassen. Das ist nicht immer elegant, wie etwa das düstere „I am not the Bad Guy“ aufzeigt, doch Disruption gehört nun einmal zur Musik und ist ein lebensnotwendiger Pulsschlag, ohne den die Plattenläden wohl nur Apple-Soundtracks und Mädchen mit Säuselstimme und Gitarre verkaufen würden.

Für „This is my hand“ hat sich Shara gerade deshalb auch selbst in ihren Gewohnheiten gestört und verstört und sich zur Inspiration ein paar unbemerkt aufgenommene Schlagzeugjams ihres Tour- und Studiomusikers Earl Harvin zum Thema gemacht.

Shara: Historically the words came minutes before the melody, so I’d start with some guitar noodle that I liked and have a picture in my mind of the story I wanted to tell and then within some hours the song would be finished all at once. But now I’m trying to shake that up a bit because I think doing things the same way leads to similar results and now I want to see if I change the writing process, if I can scratch at some musical itches that I have not yet learned to scratch.  Starting with a different element, like melody or rhythm, is not natural to me, but it’s good to sometimes be uncomfortable and then, like following the white rabbit, be lead to a new place.  

So habe sie früher in der Demo-Phase ihrer Songs eher selten über die Schlagzeug-Partien nachgedacht, sich in den letzten Jahren jedoch vermehrt mit DrumMachines auseinandergesetzt, auch wenn es nicht ganz leicht war, da sie ein wenig mit den Melodien und Texten zu kämpfen hatte. Doch wie sie weiterhin sagt, bzw. schreibt, ein Album ist immer auch ein Neubeginn.

Yeah, I think every album starts with an intention, specific aspects of music that I’m wanting to experiment with, an outline, guiding principles, perimeters whatever one might call them, which are determined at the beginning of a record making process.  Of course you set up guiding principles and then you might break them, but that’s okay.  Without perimeters though I have a really hard time making anything at all.  There is something about the framework, that allows the work to come into being.  When I started writing songs many years ago, it was not like that, but now it is.  

Earl (Harvin, Shara’s current tour- and studio drummer) sent me some recordings from his phone (“Looking at the Sun”), or I recorded him once in soundcheck and then spliced it up (“Resonance”), but in previous years, I would just write at home by myself, usually the words and the music coming at the same time, and then bring the songs to him.   For the first two albums there would not be much drum information in the demos, but the last few years I will mock up drum beats with simple drum machines in ProTools, which we may use as a starting place or we throw them out altogether.   This time around, I struggled with the lyrics and changed melodies and lyrics up to the last minute.  So it feels a  bit unnatural to me, but I think it’s interesting to sometimes try something a different way and see where it takes you.

Gerade im Kontrast zu dem doch sehr sanft angelegten Vorgänger-Album „All things will unwind“, gibt sich „This is my Hand“ instrumentell sperriger, aggressiver und auch pochender, einem rasenden Herzschlag gleich, was nicht zuletzt dem Drum-Skelett von Harvin und dem oftmals wellenartig (dennoch bodenständig) anmutenden Bassspiel von Fontaine Burnett zuzuschreiben ist. Dazwischen, davor und danach greift Shara insbesondere als „Oktopus“ zu allen anderen Instrumenten und belebt die Bühne mit dieser durchdringenden Stimme, flügelleichten Händen, die mal über die Gitarre rasen und mal auf einem Kalimba tanzen (ihr Lächeln tanzt übrigens immer mit und auch das der Musiker).

Und während „All things will unwind“ in einem wunderweichen Liebeslied an ihren Sohn in die Nacht verschwindet, wird es auf „This is my Hand“ trotz der ach so körperlichen Thematik, der Rhythmen der Glieder und der Intensität ebenso – fast schon übernatürlich – ruhig im Song „Apparition“, der so vielleicht auch ein wenig isländische Andersweltlichkeit in sich trägt und fast wie ein Gegenpol zum treibenden Opener „Pressure“ als leuchtender Schatten an die Wand geworfen wird.

Perhaps it is from the feeling that I am reaching for something I cannot name or don’t have the words to express, but that I feel or sense is there, even if I do not possess what I am longing for.  Those could be feelings of hope, or the imagination, or love or the mystical, but I think the artist always has this longing for something ungraspable, and that is part of what drives us to create, to bring the unmade into the realm of the made.  Perhaps that is where that feeling comes from, or perhaps it is not specific to me at all.  

Herausragend sind diese Seinwerdungen allemal, ob nun in einer unglaublich fesselnden Entzweiung in „Lover/Killer“, das ansatzweise an die verspielten weltmusikalischen Alben Peter Gabriels aus den 80er Jahren erinnert oder das ins Zentrum der Platte gerückte „I am not the bad guy“, das in seiner Sperrigkeit ein bedrohliches Monument abgibt (und einigen Interpretationen zufolge von den zu Unrecht gefangenen Insassen auf Guantanamo Bay inspiriert wurde).

So sei es eine schwere Entscheidung gewesen, einen derartig schwerliegenden Song als letztes auf die erste Plattenseite zu hieven und dort an den Rand zur Seite Zwei zu balancieren, da Shara eigentlich lieber sanftere Klänge bevorzugt, wenn sie den Vinyl-Liebhaber zum Umdrehen animieren will.

I am very concerned about the track listing.  And when it comes to the vinyl, I have found out that it is best not to have loud songs or songs with big dynamic shifts as the last song on each side because of the way the lacquer works, so we had major issues with that tune as the end of side A.  Next time around I will be considering this in the making of the track lists.  It’s a funny thing to be a determining factor in a digital age, but it is such an amazing feeling when you can hear your music on vinyl, that you really want it to be as good as you can get it and dynamics are a big factor!    

Auf die sanften Klänge muss man übrigens nicht bis zum letzten Song warten, da sie wie weiße Kieselsteine durch das Album führen, dessen Rhythmus-orientierte Hymnen sich zwar wie stolze Baumwipfel über ihnen erheben, ihnen jedoch genug Licht durchlassen, um sich zu entfalten. Zu den Glanzstücken zählt dennoch eine weißleuchtende Kiefer im Zentrum des Waldes, das unter dem Titel „Lover/Killer“ kathartisch zwischen spielerischen Augenzwinkern und tragischer Entzweiung hin und herspringt.

Inside myself I have a moment to choose
To hold or to refuse,
To shoot or to let loose
The cawing crow the pulsing throat

All of music itself is ephemeral and unseen, so it always seems to me to be this bridge between the unseen world, and then it physically enters the body through vibration, actually going inside of you… so these elements are always present in any music.

Außenwerbung (be) trifft jeden

Es wird ja immer schlimmer und auch wenn die Nachrichten natürlich übertreiben, sollte man Sorge tragen. Dieser Tinnitus in den Ohren, alte Jingles zum Mitsingen aus den 90ern, der geht nicht mehr weg und nistet sich wie eine Raupe in die Muschel, spinnt die Gehörgänge zu, so dass man nur noch diesen alten McDonalds-Song hört und lernen muss, von den Lippen zu lesen.

Die Augen flimmern nun schon seit Jahren, das machen die ganzen großen Plakate (früher waren sie noch so klein, dass man lediglich gelegentlich Kopfschmerzen bekam und einem flackernde Sterne über die Wimpern fielen). Schließt man sie nun abends um zu schlafen und zu träumen, pranken einem werbepsychologisch optimierte Logos, elegante Schriftformatierungen und immer lachende Menschen entgegen, die sich dann auch in den Träumen wiederfinden und aus abstrakten und surrealen Wiederaufbereitungen des Tages sich immer wiederholende Bilderkinos von Getränkeherstellern drehen, so dass man gar keinen Durst mehr hat, wenn man aufsteht und so langsam ausdörrt, sich nur nach einem Traum aus Nichts, einer schwarzen Leinwand hinter den Lidern sehnt.

Seit nun auch die Tiere betroffen sind, haben sich wohltätige Organisationen gebildet, die klebrige Captchas aus den Gefiedern und Fellen kämmen, behutsam die Schnäbel halten, um sie von Popup-Fenstern zu befreien. Aber es werden immer mehr, die sich auf den Straßen in Restaurantflyern winden.

Und seit sie Content für sich entdeckt haben, winden sich die außenstehenden Werbemacher durch unsere Nasenhöhlen hinauf in unser Denken und verstecken dort gezielt Keywords zwischen alten Kindheitserinnerungen und dem Mittag bei Oma, damals in den Ferien, die Hände auf der Wachstischdecke und das schöne Geschirr mit dem weinroten Muster (die Suppe darin war doch sicher mit Liebe oder Knorr gemacht, eines von beiden, aber welches, das weiß man nicht mehr).

Wenn ich jetzt jemandem in die Augen sehe, den ich liebgewonnen habe, dann finde ich später am Tag sein Bild in meinem Facebook-Feed, mit einer Anzeige des Herstellers, der sein Hemd hergestellt hat. Und später in der Nacht, da flüstert mir ein deutscher Prominenter, der eigentlich gar keine veräußerte Werbung machen muss, diesen geliebten Namen dieses wunderbaren Menschen ins Ohr, dicht gefolgt von einer Kaufempfehlung für sein Aftershave, damit ich an ihn erinnert werde, wenn er mal nicht bei mir ist.

Die neue Unhöflichkeit

„Die Technologie sei Schuld“, so die Kolumnen auf der Frontseite der Lokalzeitung, „die Jugend ist abgelenkt von all diesen Smartphones, sie verpasse ja das Leben“, raunen Schnauzbärte auf dem Karneval, gefolgt von irgendeiner aus den Gräbern geholten Punchline und dem müden „Tata Tata“. All das Tweeten und die Fotos auf Konzerten, man sieht die Bühne gar nicht mehr vor lauter Displays, die mit Instagram-Filtern auch noch das gerade Erlebte verzerren, so dass es nicht einmal im Moment echt erscheint. In der Bahn lächelt man sich nicht mehr an, denn alle whatsappen mit Unbekannten aus dem Netz, dieser anonymen Wolke, die man mit dem Begriff „Online“ nur all zu gerne von der Realität abhebt. Aber dabei vergessen sie, wie es früher war, genauso schlimm nur anders, genauso fremdelnd nur physischer. Vergessen all die Ecken und Kanten der Bücher und Fotoalben, die einem in der engen Bahn bei einer Kurve blaue Flecke verpassten. Vergessen die Muskelkater, wenn man wieder einmal einem Touristen den schweren Atlas halten musste, um ihm den Weg zur Warschauer Straße zu zeigen. Vergessen die vielen Federn und all der Kot der Brieftauben, die auf Konzerten die Sicht nahmen und die Technik ruinierten, ganz zu Schweigen vom Lärm, den diese Tiere verursachen können, wenn sie einmal nicht den Ausgang aus dem finsteren Club fanden um Nachrichten wie „König Richard live #livingthedream“ an Freunde und Verwandte zu tragen. Und dann die gesprenkelten Verbrennungen und der Rauch in den Augen von all den Blitzlichtlampen und dem Magnesium (oder schlimmer, dem Blitzlichtpulver) der Kameras lange vor den Handy-Displays, man konnte kaum den Sonnenuntergang unter tränenden Augen sehen noch die Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt. Das vergessen sie natürlich, wenn sie sich ablenken lassen von den hellen Displays im Dunkel des Kinos, von den konzentrierten Gesichtern in der Bahn (den Blick auf das Tablet gehaftet), von all den rempelnden Schultern der Twitterer auf der Straße. Das vergessen sie nur zu gerne.

Vom Wunsch, süß zu sein

“ Ich möchte euch sehr ersuchen, alles zu werden, was ihr wollt (solange es nicht das Tanzen an einer Stange beinhaltet). Also alles könnt ihr werden, nur nicht süß“, schreibt Sybille Berg, die allen Mädchen das Recht erteilt (und es ist wohl erteilen, wenn es „schon gar nicht“ und „Alles (…), nur nicht…“ beinhaltet), das zu sein, was sie sein wollen. Dabei sollte man doch das Recht haben, auch süß zu sein, denn wenn man ALLES sein kann* – so erinnere ich mich düster an Logik-Grundkurse auf halbschiefen Bankreihen – dürfte das „süß“ auch darunter fallen, es sei denn, es ist die Negation des „Alles“, was es jedoch schwierig für Honig und Verhaltensweisen (die ja auch mal süß sein dürfen) oder Anne Geddes-Fotografien machen würde, die plötzlich aus ihrer Existenz herauskatapultiert ins Nichts fallen würden (wobei die Welt ohne etwas Anne Geddes sicher nicht so viel trauriger, bzw. saurer wäre).

Natürlich ist es nicht schön, eine Schauspielerin wie Emma Watson – deren Tagesanzeiger-Story für den Unmut gesorgt hat – gleich in der Überschrift in dieses rosafarbene Stereotyp der „süßen Feministin“ zu drücken, da darf man Frau Berg Recht geben und da darf man sogar mit den Augen rollen, da man von Daniel Radcliffe wohl nie lesen würde, dass er der „süßeste Feminist“ ist. Das sind dann die üblich ungelenken Adjektive, die sich für Clickbait und Co so gut ausmachen, zumal ja wohl alle wissen, dass Feministinnen – auch die Hübschen – für gewöhnlich bitter im Nachgeschmack sind.

Also bitte, Gene, wenn das die Frau Berg wüsste…

Aber bei diesen spontan aufwallenden Frustrationen – die auch mich nicht selten bei derartigen Überschriften überfallen – muss man aufpassen, dass man die Selbstbestimmung der Frau tatsächlich auch selbstbestimmend (ohne Fußnoten und Einschränkungen und selbst mit Stripperstange) sein lässt, denn ansonsten biegt man bei dem arg in die Büsche gefahrenen Alice Schwarzer-„Feminismus“ ab, der die damals notwendig starren Positionen bis heute nicht abschütteln konnte und deshalb den gleichberechtigten Frauen ein gleichberechtigtes Regelwerk an Verhaltens-Verboten (Verona Pooth sein, etwa) mit an die gleichberechtigte Hand gibt. Darunter fallen Familien- und Hausfrauenwünsche, rosa Kleider und Stripperstangen und Adjektive wie „brav“ oder „süß“.

Aber man muss sie – selbst, wenn man dabei zweifelnd die Stirn in Falten wirft – doch einfach so selbstbestimmt sein lassen wie sie wollen, diese Mädchen und Frauen und Ladys und Tussis und was sie sonst noch so sein wollen. Wir kämpfen doch nicht dafür, dass sie von einer in die nächste Geschlechterrolle fallen, sondern dass sie sich bequem aussuchen können, in welcher Rolle (bzw. in welchen Rollen) sie sich selbst gefallen. Das dürfen auch die süßen Rollen sein, die mit Hundebaby-Blick und Schmollmund und Leopardenprintkleid und dem Wunsch, die Frau von jemandem zu werden, der eine oder keine Jacht hat.

*Natürlich ist es von vornerein unwahrscheinlich, dass man wirklich alles sein kann. Ich wage zu behaupten, dass es kein Mensch schaffen würde, eine Raumfahrtstation oder aber ein echtes Häschen zu sein (die übrigens laut Frau Berg ausnahmsweise süß sein dürfen). Aber man lernt ja auch, dass man sich im Argumentationsrahmen seines Gegenübers bewegen soll, daher habe ich diese erste semantische Hürde einfach mal ignoriert.

 

Am Donnerstag, die Demo

(Erlebt am 25.9.2014)

Am Potsdamer Platz demonstrieren heute die Psychotherapeuten in grell orangen T-Shirts, denn wie die Farblehre dem Psychotherapeuten noch damals als rotwangigen Studenten riet, sei Orange eine Farbe der Energie und des Aufbruchs, des Aufbruchs der Gehälter, um genauer zu sein, denn die Honorare sollen steigen, so die durcheinandergewirbelten Parolen. Das Reden fällt allen so furchtbar schwer, die ja sonst nur zuhören und nicken, dass sie nun wirr aneinander und ineinander vorbeireden und dabei selbstgemachte Plakate in den Händen schwingen, die niemand lesen kann, da in den Praxen – wo sich vorher in Orangenschale geworfen wurde – nur noch Rohrschachtests übrig waren und nun die Parolen von Geschlechtsorganen, Dämonen und Dutzenden Schmetterlingen durchdrungen werden.

Und während ich mit gesenktem Kopf aus der Mittagspause hinaus und hinein ins Bürogebäude gehe, ducke ich mich, denn gerade haben einige Krawallhähne die bereitgestellten Polizisten entdeckt und bewerfen sie mit Narkotika und Aufputschmitteln und benetzten Zuckerstückchen, die an den schweren Uniformen abprallen und auf den Boden fallen und dann fängt es auch noch an zu regnen und der Zucker schmilzt, die Potsdamer Platz-ansäßigen Tauben fangen plötzlich an, ganz komisch zu gehen und dann zerlaufen auch noch die Rohrschachplakate und betröpfelte und bedröppelte Therapeuten sehen sich und die Enttäuschung ihrer Eltern in den aufgeweichten Parolen, die wie der Rücken des Vaters am Freitagabend aussehen, wie die Dauerwelle der Mutter, die niemals die Fußballspiele besuchte und Tanjas Pferdeschwanz mit Schleife, die Kuh, die doch im Feriencamp nicht knutschen wollte.

Und dann geht das Weinen los und wie von Zauberhand – ich schwöre, so geschah es, kurz bevor sich die automatische Tür zum Bürogebäude öffnete – werden die vor lauter Verzweiflung stürzenden Psychotherapeuten von weichen Chaiselongues aufgefangen, samtenen Kissen und goldenen Armlehnen, die im Regen glänzen. Und da liegen sie wie von den Männern der Renaissance gemalt, die zerknüllten Plakate – mißbilligende Eltern, abweisende Freunde und unfaire Vorgesetzte – in ihren zitternden Händen, die orangen Shirts fast rot, so durchnässt sind sie…